Wenn man die Haut-Jura Comtoise Uhr als Produkt eines Entwicklungsprozesses versteht, dann wird klar, dass es auf dem Weg vom Anfang bis zum Produkt, d.h von der Laternenuhr bis zur Comtoise Uhr im Zeitraum von 1657/58 bis 1700/1710 Zwischenstadien gegeben haben muss, denn niemand wird wohl annehmen, dass die Haut-Jura Comtoise Uhr mit Spindelgang und Langpendel eine Schöpfung am Reissbrett oder das Ergebnis einer Familienkonferenz der Mayet gewesen ist.
Die Haut-Jura Comtoise ist keinesfalls eine Weiterentwicklung aus Turmuhren heraus, weder aus Turmuhren der Mayet noch aus Turmuhren des 15., 16. oder 17. Jahrhunderts anderer Uhrmacher.
Die Haute-Saône Comtoise Uhr ist eine Weiterentwicklung der Laternenuhr, welche die neuen aus England kommenden Elemente wie Pendel, Ankergang und Rechenschlagwerk bereits Ende des 17. Jahrhunderts übernommen hatte.
Die Haut-Jura Comtoise Uhr ist eine Weiterentwicklung der Haute-Saône Comtoise Uhr, die sich um ca. 1710 in ersten eigenen Uhren daselbst manifestierte. Die bisher älteste datierte und signierte Comtoise Uhr des Haut-Jura Typs stammt aus dem Jahr 1709.
Ich stelle Ihnen eine Uhr vor, deren äußere Merkmale, wie Zinnzifferblatt und Zinnfronton, Einzeiger, Aufhängebügel und untere Abstandshalter, Glocke mittig oben auf dem Werk und in einem geschmiedeten Werkkäfig mit seitlichen Werktüren sofort auf ein Haute-Saône Comtoise Werk hindeuten. Einen Galgen als Pendelaufhängung gibt es jedoch nicht, eine Pendelstange hinter dem Werk somit auch nicht. Es gibt auch keinen Schlitz an der unteren Rückseite der Werkkäfigplatte, durch welche das Pendel schwingen könnte. Diese Uhrwerk besitzt kein Pendel, dies wird schnell klar. Anstelle eines Pendels besitzt dieses Uhrwerk nämlich eine Radunrast.
Vermutlich wird niemand erwarten, nach fast 350 Jahren eine Uhr vorzufinden, die sich noch im Originalzustand des Jahres +- 1670 befindet. Selbstverständlich hat es an diesem Uhrwerk Reparaturen und/oder Veränderungen gegeben, aber die Grundsubstanz zeigt ein Hybrid Uhrwerk mit Anteilen aus Laternenuhr und Comtoise Uhr. Ganz offensichtlich ist der Zeiger ersetzt worden, denn er stammt eindeutig nicht aus dem 17. Jahrhundert, sondern aus dem 18. Jahrhundert. Der ursprüngliche Zeiger war wesentlich dicker als der vorhandene. Die aktuelle Glocke dürfte ein Exemplar des 19. Jahrhunderts sein. Das Zinnzifferblatt könnte durchaus authentisch sein, wird aber wahrscheinlich ein Exemplar des frühen 18. Jahrhunderts sein. Das Zinnfronton stammt mit Sicherheit aus dem 18. Jahrhundert, denn es weist die typischen Rocaillen des Rokoko auf. Vermutlich wurde dieses Uhrwerk in der Zeit 1730/1740 mit neuem Zifferblatt, Fronton und Zeiger im Stil des Rokoko modernisiert. Die kleinen Befestigungsschrauben des Zinnzifferblatts sind von Hand gefeilte Einzelstücke und nichts deutet auf irgendeine weitere Veränderung nach der Modernisierung im frühen 18. Jahrhundert hin. Veränderungen hingegen kann man an dem oberen Halter der Spindelachse erkennen, denn diese ist nicht original, sondern wurde aus alten Bestandteilen einer anderen Uhr ersetzt. Die Spindelachse selbst sowie die Radunrast sind unverändert, es lassen sich keine anderen Veränderungen am Gehwerk-Radsatz erkennen. Im Rädersatz des Schlagwerks wurden die Flügel des Windfangs ersetzt, ursprünglich sicher aus Eisen, nun nach Reparatur aus Messing. Hammer und Hammerandruckfeder wurden ebenfalls erneuert. Schaut man sich die Achsen an, so fällt auf, dass diese konisch sind, ein typisches Zeichen früher Werke des 17. Jahrhunderts. Besonders auffällig ist die konische Form der Achse der Schlagwerkauslösung.
Dieses Haute-Saône Hybrid Comtoise Uhrwerk ist natürlich in der Zeit nach 1660 entstanden, als noch überwiegend Laternenuhren gebaut wurden. Laternenuhren hatten üblicherweise eine Laufdauer von ca. 30 Stunden, die Radsätze waren hintereinander angeordnet. Der Schöpfer dieses Uhrwerks jedoch wollte eine Laternenuhr mit 8 Tage Laufdauer bauen und schuf somit diese Hybrid-Uhr. Er setzte die beiden Radsätze des Laternenuhrwerks ohne das Aufzugsrad - kurze Achsen von ca. 47mm Länge - nebeneinander, damit er auch 2 Aufzugsrollen - lange Achsen von ca. 69 mm Länge - für die Aufnahme der notwendigen Schnur für die 8-tägige Fallhöhe der Gewichte montieren konnte. Die beiden vorderen Platinen sind senkrechte Platinen, wohingegen die hinteren Platinen im unteren Bereich nach hinten abgewinkelt wurden, um die längeren Achsen der Aufzugsrollen aufzunehmen. Bei einer Platinenstärke von 3 mm würde sich eine Werktiefe in einem Laternenuhrwerk ( 2 Radsätze und 3 Platinen ) von 103 mm ergeben, in einem Comtoise Uhrwerk würde die Tiefe eines Radsatzes ( 2 Platinen ) von 75 mm ergeben. Vergleichen wir diese beiden Maße einmal mit den üblichen Maßen von Laternenuhren und frühen Comtoise Uhren, dann finden sich kaum Abweichungen.
Die große Besonderheit dieses Uhrwerks besteht nun neben der Radunrast gerade darin, dass es diese hinteren abgewinkelten Platinen besitzt, denn die Konstruktion wäre natürlich auch mit hinteren senkrechten Platinen und 75mm Achsen aller Räder sowie Ausstattung mit Radunrast möglich gewesen.
Wie bei Laternenuhren üblich, gibt es extrem wenige Schrauben. Lediglich die Schlossscheibe sitzt auf einer Ansatzschraube, alles andere wird durch Stifte und Keile befestigt bzw. gesichert. Die Befestigungsschrauben des Frontons und des Zifferblatts sind 18. Jahrhundert, die Rundkopfschraube des Glockenhalters ist 19. Jahrhundert. Dicke geschmiedete Käfigplatten von teilweise mehr als 3 mm Stärke, Werkpfeiler von 10 x 10 mm, genauso wie man es auch in den frühsten Haute Saône oder Haut-Jura Comtoise Uhrwerken wiederfindet.
Das Werk besitzt einen Aufhängebügel, die Abstandsdornen fehlen, die Bohrungen dafür sind jedoch vorhanden. Das Werk besass Türen, die entsprechenden Bohrungen in den Käfigplatten sind vorhanden. Rechts und links neben dem Fronton standen ursprünglich kleine Pinakel, Zapfen/Vasen montiert. Die Bohrungen in der Käfigplatte sind vorhanden, in der rechten Bohrung steckt noch das Gewindestück, auf welches das Pinakel aufgedreht wurde.
Nachfolgend diverse Maße und Daten dieses Uhrwerks.
Käfig: 203 mm Höhe x 181 mm Breite x 103 mm Tiefe.
Käfigoberplatte: Stärke 2,7 mm bis 3,1 mm Käfigunterplatte: 2,7 mm bis 3,2 mm
Pfeiler 10 x 10 mm. ( 9,9 mm bis 10, 1 mm )
Uhr: 300 mm Höhe x 181 mm Breite x 158 mm Tiefe.
Zinnzifferblatt: 168 mm Außendurchmesser, 98 mm Innendurchmesser. Stärke des Zinnzifferblatts: 2,3 mm bis 2,9 mm
Platinen sind 19,5 mm breit und 4,7 bis 5 mm dick.
Der vorhandene Zeiger ist 52 mm lang und 1,5 mm dick. Der ursprüngliche Zeiger dürfte ca. 4 mm dick
gewesen sein ( gemäß möglicher Aufnahme des Zeigervierkants )
Das rückseitige Werkblech ist 1,8 mm bis 2,0 mm dick, das Frontblech 1,6 mm bis 1,7 mm dick.
Dicke der konischen Achse der Schlagwerkauslösung zwischen 6,25 mm und 7,8 mm. Dicke der konischen Achse des Hebnägelrads zwischen 5,1 mm und 5,9 mm.
Dicke der konischen Achse des Großbodenrads zwischen 5,5 mm und 6,1 mm
Das Gehwerk auf der rechten Seite wird gegen den Uhrzeigersinn aufgezogen. Das Schlagwerk auf der linken Käfigseite wird im Uhrzeigersinn aufgezogen. Optisch kann man dies dann daran sehen, dass die beiden Gewichte nah an den Rändern der Käfigseiten hängen. Dieses gegenläufige System des Aufziehens der Gewichte ist eine Übernahme aus den Laternenuhren.
In den Laternenuhren sind die beiden Aufzugsräder hintereinander angeordnet. Durch Ziehen an Schnur oder Ketten werden die Gewichte nach oben gezogen. Das vordere Gehwerk wird an der rechten Seite - Drehrichtung des Kettenrades gegen den Uhrzeigersinn - und das hintere Schlagwerk wird an der linken Seite - Drehrichtung des Kettenrades im Uhrzeigersinn - aufgezogen. Dadurch hängen die beiden Gewichte mittig links und rechts. Würden beide Gewichte auf einer Seite hängen, könnte sich das hängende Uhrwerk an der Wand verschieben, auch könnten sich die Gewichte berühren. Da Christian Huygens auch den Endlosaufzug für Schnur/Kette erfand, wurde dann bei den Laternenuhren nur noch das Grundrad/Kettenrad des Gehwerks gedreht, wohingegen das Grundrad/Kettenrad des Schlagwerks nicht mehr drehbar war. Die Umlenkrolle, an welcher das Gewicht hing, verteilte den Druck sowohl auf Gehwerk und Schlagwerk, außerdem hing das Gewicht mittig unter dem Werk.
Wenn man nun die beiden Radsätze einer Laternenuhr nebeneinander in einen Käfig einbaut, so muss man den Gehwerkradsatz rechts im Käfig und den Schlagwerkradsatz links im Käfig platzieren, da sich sonst die beiden Gewichte in der Mitte berühren/behindern würden.
In der Weiterentwicklung der Haute-Saône Comtoise Uhr zur Haut-Jura Comtoise Uhr wird das Aufzugssystem der Grundräder dahingehend geändert, dass nun beide Radsätze im Uhrzeigersinn aufgezogen werden, so dass das linke Gewicht links neben der Mitte des Käfigs und das rechte Gewicht am Rand des Käfigs hängen.
Das markante Aussehen der an den linken und rechten Seiten hängenden Gewichte der Haute-Saône Comtoise Uhrwerke zeigt nachdrücklich die Verwandtschaft zu den Laternenuhren.
Sicherlich ist das Aufziehen der Gewichte einer Uhr einfacher, praktischer und ungefährlicher für den Benutzer, wenn beide Aufzüge die gleiche Drehrichtung aufweisen. In den Haut-Jura Comtoise Uhren ist dies ( mit extrem wenigen Ausnahmen späterer Exemplare ) Standard von Anfang an. Auch in solchen Haut-Jura Werken, bei welchen die Radsätze von Gehwerk rechts und von Schlagwerk links angeordnet sind, werden beide Radsätze gegen den Uhrzeigersinn aufgedreht.
Übergangsformen bzw. Zwischenformen einer Laternenuhr und einer Comtoise Uhr oder eines anderen Uhrentyps dürften extrem selten sein. Vielfach waren es Einzelstücke und nach fast 350 ist es wirklich als Wunder zu bezeichnen, solch eine Hybrid-Uhr zu finden. Wenn aber solche Uhren aufgefunden werden, beweisen diese Uhren dann doch eindringlich, dass die uns bekannten Uhrentypen das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses sind.